Mit dem Segelkanu auf Lago Maggiore und Ticino

- Ursula Roos (Name geändert, d.A.), sagte die Stimme im Telefon. Wir wohnen im Tessin am Lago Maggiore, und ich weiss nicht, ob Sie sich erinnern...
- Aber ja, sage ich. Auf der Anlegestelle von Tenero, auf einer Bank

am Mittag des 14. November 2012 teilte ich meine Aufmerksamkeit zwischen einer blonden Dame im rosa Laufdress und einem Appenzeller Biber mit den dringend notwendigen Kalorien für die anstehenden Paddelkilometer. Der See glitzerte und glänzte in der Sonne, und mein Bufflehead Segelkanu lag tief im klaren Wasser. Ich war früh am Morgen mit dem alten Land-Rover losgefahren. Nichts deutete darauf hin, dass dies eine Katastrophenfahrt werden sollte.

sassen wir zusammen und haben uns über die Reise nach Venedig unterhalten.

Natürlich kann man vom Lago Maggiore nach Venedig fahren, über den See, den Ticino hinunter, den Po und dann an der Adriaküste entlang oder durch den Kanal in die Lagunenstadt. Peschä hatte mir geraten, das Boot bei Turbigo direkt in den Ticino einzusetzen, aber ich bin eigensinnig und liebe das meditative Paddeln auf großen Flächen.

- Ich laufe die Strecke ja jeden Tag. Wir haben Ihr Auto gefunden und dann die Telefonnummer herausbekommen. Wir haben jeden Tag danach geschaut, bis es plötzlich nicht mehr da war. Da ist etwas schief gegangen, nicht? Entschuldigen Sie unseren Anruf, aber wir haben uns Sorgen gemacht.
- Ja, sage ich, auf dem Ticino war Hochwasser. Ich bin havariert und habe die Reise abbrechen müssen. Dabei lief es die ersten Tage wirklich gut, über den See

war ich bis zur Dunkelheit zu den Castelli di Cannero gekommen. Drei Schwäne watschelten indigniert ein paar Meter weiter, als ich das Kanu aus dem Wasser hob und Matte und Schlafsack darin ausbreitete. Über der Ruine stand ein türkischblauer Himmel mit einer Mondsichel und ich wusste, die Nacht würde kalt werden. Am folgenden Tag kam ich bis hinter Angera, denn ich konnte grosse Strecken segeln gegen einen Wind der rauh und grau aus dem Himmel fiel und mich frösteln liess.
Und so stand ich bereits am Morgen des dritten Tages vor Sesto Calende. Es war diesig aber warm. Ich spürte die leichte Brise hinter den Ohren und begriff glücklich gegenwärtig, dass ich endlich angekommen war in der Welt der fraglos einfachen nützlichen Dinge, in der der Himmel sich jeden Morgen neu über mir wölben würde wie ein Geschenk und ahnte hinter dem nebelweichen Seeufer den Fluss verlässlich abwärts fließen, gestern heute und morgen auch. Ich wusste mich aufgehoben in der Welt, bedenkenlos einverstanden mit allen Dingen und freute mich auf ein Leben, in dem die Zeit nicht mehr ohne Aufhören vergehen und die entfernten Geschehnisse keine Rolle spielen würden, aber ich hätte besser hinschauen sollen: denn auf der grossen Fläche des Sees bildeten unzählige kleine silbrige Wellen veränderliche Muster, überlagerten und verschränkten sich, ein zusammenhängendes Netz aus Raum und Zeit.
Ich muss minutenlang so dagesessen sein, bewegungslos und ohne zu denken. Dann merkte ich dass ich langsam rückwärts trieb und nahm das Paddel wieder auf.

brauchte ich nur zwei Tage und wasserte dann aus. Auf den ersten Kilometern des Ticino war ich zu Fuss unterwegs, und habe die Wehre umtragen.
- Das war mit dem kleinen Bootswagen, richtig?

und Peschä hatte mich gewarnt, dass mich jede Umtragestelle mindestens eine Stunde Zeit kosten würde. Deshalb hob ich das Boot an der ersten Schleuse auf den Wagen und trabte den Rest des Tages zu Fuß auf dem Uferweg an den Wehren und an einem Industriekanal entlang, schnell fließend zwischen glatten Betonwänden. Ab und zu sah ich den Ticino, wild und reissend mit viel Gefälle über kopfgroße Steine spritzend. Am Nachmittag bei Maddalena fand ich einen Parkplatz einen Waldweg eine Wiese einen Kiesstrand und dahinter den Fluss, der seicht und flach talabwärs zog. Erst im überraschend kühlen Wasser fiel mir das zischende, brausende Geräusch auf, das ensteht wenn Wasser mit hoher Geschwindigkeit über ein steiniges Flussbett schäumt. Etwa hundert Meter weiter brodelte der Fluss über einen Damm.
Wie auf Bestellung erschien ein drahtiger Typ mit einem blauen Spielboot am Ufer. Das Boot war kürzer als er selbst, und mit Helm, Wildwasserweste, Neoprenzeug und Spritzdecke um die Hüften sah er aus wie aus dem Abenteuerfilm "Mit dem Kajak über die schönsten Wasserfälle der Welt". Seine klugen Augen hinter der Brille schauten ungläubig auf mein Segelkanu. Er berichtete mir von Stromschnellen auf den nächsten Kilometern, "rapido, rapido, rapido", eine nach der anderen. Am besten sollte ich erst in Turbigo einsetzen, oder zumindest in Ponte di Oleggio, ab dort wäre das Schlimmste vorbei. Dann warf er sich und das Kajak entschlossen in den Fluss. Eine Stunde später war er wieder da. "Zu viel Steine, zu wenig Wasser." Er warnte mich eindringlich vor dem Kanal: der hat glatte Wände, da kommt unsereiner nicht mehr raus. Deshalb lud ich das Boot nach dem Abendessen wieder auf den Wagen und zog es im Schein der Stirnlampe durch das nasse nebligdunkle Tal, während neben mir der Industriekanal schwarz und still und schnell und sehr gefährlich entlangfloß.

- Ja, ich war wirklich froh, dass ich den zerlegbaren Kanuwagen dabei hatte. Der obere Ticino hatte zuwenig Wasser, und erst ab Ponte di Oleggio konnte ich wieder paddeln.
- Wir haben uns die Strecke auf der Internet-Karte genau angeschaut. Wo ist es denn schief gegangen?
- Da war zuerst eine Baustelle an der Autobahnbrücke, die ich falsch eingeschätzt habe. Dort bin ich zum erstenmal baden gegangen,

Es war Samstag, der 17. November 2012 nachmittags ab 15:00 Uhr, als ich mit dem Segelkanu an der Autobahnbrücke am Flusskilometer 48,74 ankam, und genau dort fing es an richtig haarig zu werden. Ich war am Morgen bei Ponte di Oleggio eingestiegen, hatte Schwert und Ruder demontiert und sicher im Boot verzurrt, Neopren angezogen, darüber Regenzeug und die halbautomatische Schwimmweste. Es hatte Hochwasser, aber die Strömung kam mir bis zur Autobahnbrücke nicht übermäßig gefährlich vor. Sicher, der Fluss war tief und schnell, sehr schnell. Aber die rauschenden Schwallstrecken, Stufen und Rampen waren nicht schwer zu fahren, und nur ab und zu spritzte ein Schwall Wasser über das Deck und die Cockpitabdeckungen. "Immer in das V hinein fahren", hatte mich Martin ermahnt, und Peschä hatte mir den Tip gegeben, schon vor der Kurve die Bugspitze so einzudrehen wie sie nach der Kurve stehen sollte, um den umgestürzten Bäumen an der Außenkante auszuweichen. Vor ein paar Stromschnellen hielt ich an und erkundete sie zu Fuss, aber als ich sah wie das breite Boot die Hindernisse nahm wie ein Korken auf dem Wasser, fuhr ich einfach durch. In Turbigo ging ich einkaufen und erreichte eine Stunde später die Autobahnbrücke. Ich wusste dass dort gebaut wurde und dass im Flussbett große Röhren verlegt waren. Vor der Brücke fand ich keine Ausstiegsstelle. Dahinter schien ein Damm quer in den Fluß hineingebaut, mit einer Reihe von soliden gelben Sandsteinen drauf. Ideal zum Anlegen, dachte ich und hielt drauf zu. Ungläubig sah ich, wie die starke Strömung unter dem Damm abfloß. Das Boot wurde sofort hart gegen die Steine gepreßt und legte sich langsam schief.
Martin hatte mir geraten: wenn es haarig wird, steig aus. Also tastete ich mit beiden Beinen zwischen dem Boot und dem Damm nach Grund. Als ich brusttief im Wasser stand, wurde ich schneller unter Wasser und unter den Damm gesaugt als ich "schlork" sagen konnte. Ich begriff sofort, dass der ganze Fluss unter dem Damm durch solide Stahlröhren mit zwei Meter Durchmesser gepresst wurde, vom Hochwasser komplett überflutet - und ich war mittendrin.
Es wurde sehr schnell dunkel. Einen Moment lang, im wirbelnden Sog und dem dumpfen Rauschen stellte ich mir ein solides Metallgitter am Ausgang vor wie in einem schlechten Film, spürte bereits den harten Aufprall voraus und den Wasserdruck, der mir die Luft aus den Lungen pressen würde - aber plötzlich fand ich mich im schaumigen hellen Wasser hinter dem Ausfluss der Röhre auf der anderen Seite des Dammes. Prustend und planschend kämpfte ich mich ans Ufer.
Zurück mit triefend patschenden Schritten auf dem Damm fand ich das Kanu an gleicher Stelle, wie ein Korken zwischen den Steinen direkt über der überfluteten Röhre. Es hatte ein paar Kratzer mehr und sah wesentlich kompetenter aus als sein Skipper. "Wo
steckst du denn so lange", sagte das Boot vorwurfsvoll. Als ich es auf den Damm gezogen hatte, sah ich mich um. In der Flußmitte drückte das Hochwasser zwischen eng stehenden Brückenpfeilern hindurch und hatte dahinter zwei Breschen in den Damm geschlagen. Dort schäumte und gurgelte tiefes Wasser um Eisenschrott herum. Es sah schaurig aus.

ich hatte wohl mehr Glück als Verstand und nichts weiter verloren als meinen Hut. Richtig schief gegangen ist es eine Stunde später, in der Abenddämmerung an der Ponte Buffalora. Es ging links hinunter, zuerst über eine harmlose Stufe, dann direkt unter der Eisenbahnbrücke über eine zweite, größere. Und dahinter einige Meter tosendweißes Wasser ohne Struktur. Als ich die zweite Stufe hinuntergefahren bin, ist der weiße Schaum über dem Boot zusammengeschlagen.
- Hatten Sie keine Angst gehabt?

Für Angst war keine Zeit, als das Boot plötzlich stoppte und mir der Schaum in die Nase stieg. Ticianus, der Flußgott, nahm die Enden des überspülten Kanus zwischen zwei Finger und stellte es quer. Ich kenterte sofort, liess mich aus dem Boot spülen und wurde unter Wasser gezogen. Kam kurz wieder hoch, tauchte im schaumigen Wasser erneut unter. Das ist eine Walze, dachte ich. Du musst tauchen, lass dich bis zum Grund hinunterziehen und dann ganz unten raus. Ich kam nach etwa drei Umdrehungen frei.
In der Mitte des Flusses standen harte, steile Wellen, wo das Wasser tief und reißend war. Ich ruderte mit den Armen darin herum und suchte das Ufer nach flachen Stellen ab. Das kalte Wasser kroch langsam unter den Neoprenanzug, sorgte für kleine Schocks auf Brust und Rücken. Mit Anstrengung erreichte ich eine knietiefe kiesige Stelle, auf der ich mich auf allen Vieren mühsam atmend gegen den Anprall des Wassers auf der Stelle halten konnte. Etwa fünfzig Meter oberhalb drehte sich das Boot träge in der schaumigen Walze.
In der Flussmitte tanzte meine kleine wasserdichte Gefrierdose mit Telefon, Pass und Bargeld fröhlich auf und ab. Ohne Bedenken ließ ich mich von der Strömung wieder ins tiefe Wasser ziehen und schwamm mit kurzen, harten Stößen auf die Dose zu. Als ich sie ergriffen und etwa hundert Meter flussabwärts auf eine Kiesbank geborgen hatte, war mir warm geworden. Ich liess mehrere Gepäckstücke vorbeitreiben. Dann kam das Boot aus der Walze. Ich konnte es schwimmend erreichen und auf die Kiesbank ziehen, voll mit Wasser bis zum Süllrand, und Gepäck und Ausrüstung schwammen darin herum. Ein Auftriebskörper hatte sich losgerissen.
Ich setze mich neben das Boot. Bestandsaufnahme: meine kleine Tonne mit dem Schlafsack war noch da. Der Schlafsack war naß. Schaute mich um: die Kiesbank gehörte zu einer kleinen Insel mitten im Fluss, und es wurde gerade dunkel. Ich wusste, eine Stunde lang würden mich der Neoprenanzug und das Adrenalin noch warm halten. Mast und Paddel waren weggeschwommen, die Tour damit zu Ende. Ich lenzte, zog das Boot aufs Trockene, packe die Stirnlampe und etwas trockene Kleidung in einen wasserdichten Rucksack. Inzwischen war es völlig Nacht geworden.
Dann blickte ich mich um, warf den Rucksack über die Schulter, versuchte die schwarze Baumreihe am gegenüberliegenden Ufer zu erkennen und stieg erneut ins kalte Wasser, um durch den Fluss zu schwimmen und ein Hotel zu suchen.

- Weiche Knie hatte ich erst später, als ich darüber nachdachte. Ich bin gekentert, aber ich war nicht ängstlich. Denn ich war wirklich gut in Form, schwimme gern und fühle mich im Wasser wohl. Das Boot und ich haben nur ein paar Kratzer abbekommen, aber ich habe ziemlich viel Zeug verloren, deshalb musste ich die Reise abbrechen. Zum Glück hatte ich die richtige Kleidung, Neoprenanzug und Schwimmweste. Trotzdem möchte ich nicht nochmal im Dunkeln durch einen reissenden Fluss schwimmen.

"Acqua alta", sagten die Kollegen des Novara Canoa Clubs am folgenden Tag. Ich hatte sie aufgesucht, um ein Doppelpaddel auszuleihen, damit ich das Boot abbergen konnte. Das Feuer im Kanonenofen knackte und verbreitete bullige Wärme im Clubhaus. Dicke Wolken Gelächter zerplatzten unter der hohen Holzdecke.
"Nein, bei diesem Wasserstand gehen wir nicht paddeln. Canoa, no. Viel zu gefährlich."

- Ich bin froh, dass Ihnen ausser dem Schreck nichts passiert ist.
- Ja, das finde ich auch.
- Jetzt sind wir beruhigt. Gut, dass wir telefoniert haben. Sie müssen uns versprechen, dass Sie unbedingt anrufen, wenn Sie wieder im Tessin sind. Wollen wir uns dann treffen? Wir würden uns sehr darüber freuen!

Als ich wieder nach Tenero kam um das Auto zu holen, wusste ich nicht dass die Gedanken des Ehepaar Roos mit mir gewesen waren auf all meinen Wegen. Ich erinnere mich nur: es war sonnig und windstill, der See glitzerte und glänzte in der Sonne, und der alte Land-Rover sprang sofort an.

Infos: Sicherheit im Wildwasser

Informiere dich aus erster Hand über die Bedingungen auf dem Fluss. Pegel sagen nicht viel, wenn der Vergleich fehlt. Der Novara Canoa Club hätte mir vor Beginn der Reise von der Strecke abraten können.
Fahre nicht allein. Nimm jemand mit, der die Strecke kennt. Lass ihn voraus fahren und fahre ihm nach. Er kennt die unfahrbaren Stellen, und wenn du kenterst, kann er dir helfen.
Die richtige Kleidung hält dich mindestens so lange warm, bis du wieder festen Grund unter den Füssen hast.
Niemals ohne Schwimmweste! Meine ist halbautomatisch: erst wenn ich sie brauche, ziehe ich an der Schnur, und sie bläst sie sich von selbst auf.
Wenn du baden gehst, schau flussabwärts und winkle die Knie an. In dieser Haltung trifft dich der überspülten Felsen an den Füssen, nicht am Kopf. Wildwasserfahrer tragen Helm!
Wasserdichte Gefrierdose Geh regelmässig schwimmen. Fitness ist wichtig, wenn man im Wildwasser baden geht.
Verzurre das Gepäck sicher im Boot. Mein Gepäck war an Zurrösen im Rumpf angebunden; das ist für eine normale Kenterung ausreichend. In der Walze herrschen aber Wasserfallbedingungen: mehrere Zurrleinen sind gerissen, und dadurch habe ich etwas Gepäck und Ausrüstung verloren.
Wasserdichte Gefrierdose Verpacke das Gepäck trocken und schwimmbar. Am besten sind Plastiktonnen mit einer Gummidichtung im Deckel. Die Gummidichtung muss in gutem Zustand sein, und die Tonne muss fest zugeschraubt werden. Für Kleinteile, Kamera und Dokumente sind Gefrierboxen eine einfache und billige Lösung. Eine Zurröse ankleben und mit einer Leine sicher am Boot befestigen.
Das Boot braucht am Bug und Heck solide Griffe, damit man sich schwimmend daran festhalten kann.

Weiterführende Literatur

Kanu-Magazin September 2011, S.31: Ticino - für kleine Jack Londons
Die 50 schönsten Kanutouren in Italien, Pollner-Verlag 2011, 24,90 €.

Herzlichen Dank an Martin für die Literaturhinweise!

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